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"Tatsächliches Sein"

June 28, 2006, Miscellaneous

In meinem Ästhetik-Seminar hat mein Dozent während einer Fragerunde über den Begriff Wirklichkeit frei nach Descartes folgenden zitierenswürdigen Satz geäußert:

"Was auf mich wirkt, muß irgendwie wirklich sein." 1)

Dieser Satz hat auf mich gewirkt. Mir wurde bewußt — was mir vorher nicht klar war —, daß im Wort Wirklichkeit schon wirken im Wortstamm vorhanden ist! Entgegen einem Gedanken, sie sei objektiv, ohne einen Rezipienten, auf den sie wirken könnte, nötig zu haben. Nein, Wirklichkeit muß wirken, um zu verwirklichen, um wirklich zu sein.

Damit ist das Wort Wirklichkeit nicht mehr, nein, war niemals!, Synonym zu Realität.


Realität kommt vom mittellateinischen Wort realitas, das wiederum vom lateinischen res hergeleitet ist — in vornehmlicher Bedeutung: das Ding, die Sache, aber auch: die Sachlage, die Beziehung und im Plural u.a. gleich: die Welt, das Universum, die Natur —, und meint damit die Sachhaftigkeit oder Dinglichkeit; das Wesentliche, die "selbständige, vom Denken unabhängige Wirklichkeit: »Real« ist, was »in re«, nicht bloß »in intellectu« besteht, »realiter« ist die Seinsweise eines Etwas außerhalb des Gedachtseins.", wie ein gerade gefundener Eintrag eines philosophischen Wörterbuchs von 19042): so höchst vielversprechend anfängt, auch wenn dieser Text zu Beginn gerade den Fehler macht, von dem sinnunterschiedlichen Wort Wirklichkeit Gebrauch zu machen, um Realität zu definieren. Aber ist nicht Realität nicht nur die vom Denken unabhängige Dinglichkeit, sondern auch von ihrem Wirken, ihrer Wirkung auf einen Beobachter losgelöst? Realität muß nicht wirken, um tatsächlich zu sein3).

Man muß hier bei der Formulierung sehr gut aufpassen, denn ansonsten kann man mit einem Problem durcheinanderkommen, das mir aufgrund meines kleinen Physikstudiums einfallen muß: Realität kann vielleicht real sein, ohne daß sie einen Betrachter benötigte, allerdings kann sie andersherum zumindest in der Quantenwelt sehr wohl durch die reine Anwesenheit eines vermeintlich untätigen Betrachters, sogar in der Form eines technischen Detektors, beeinflußt werden, wie uns das Doppelspaltexperiment4) lehrt, "the most beautiful experiment in physics".

Die Frage, die man sich jetzt wiederum stellen muß, ist, ob man nicht mit diesem Wissen, daß ein Beobachter allein durch die Tatsache, daß er beobachtet und lediglich beobachtet, auf die Realität einwirkt, das gesamte Konzept einer objektiven Realität à la Kant, einer Realität, die ohne Betrachter auskommt, über den Haufen werfen muß. Vielleicht gibt es wirklich kein Geräusch, wenn ein Baum umfällt und niemand (und auch keinerlei Detektor) da ist, der es hört oder sieht. Und auch keinen Baum, oder Wald.

Vielleicht gibt es nur Wirklichkeit, und keine Realität.



Religiöse Menschen haben's allerdings an dieser Stelle mal wieder leichter:

There was a young man who said, "God Must think it exceedingly odd That a thing like this tree Can continue to be When there's no one about in the quad."

Dear Sir, Your astonishment's odd: I am always about in the quad, And that's how this tree continues to be, Observed by Yours faithfully, God.

(Aus 333 Limericks. Ausgewählt, importiert, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Walter Dietze, Leipzig 1977. Vielen Dank an Barbara Haeberlin, daß sie diese beiden bei wer-weiss-was.de erwähnt hat.)


Fußnote

1)
Hervorhebungen natürlich von mir, da es sich um gesprochenes Wort gehandelt hat.

2)
Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904); online unter http://www.textlog.de/eisler_woerterbuch.html. (Leider ist die Navigation für das Eisler-Wörterbuch dort etwas kaputt, zumindest momentan sehr unübersichtlich.)

3)
Diese Formulierung, die auch Titel dieses Artikels ist, stammt von Steudel:

»Tatsächliches Sein ist Realität oder Wirklichkeit. Real ist, was außerhalb des Denkens und unabhängig vom Denken ist«

(Philos. I 1, 298 ff.. ähnlich TITTMANN, Aphor. S. 136)
Übernommen aus dem bereits zitiertem Wörterbucheintrag.

Dr. Quantum and the Double Slit Experiment from the film What The Bleep!? — Down The Rabbit Hole

4)
Wer dieses Experiment nicht kennt: Es gibt eine sehr nett gemachte Zeichentrickanimation namens Dr. Quantum and the Double Slit Experiment dazu in dem Film What The Bleep!? — Down The Rabbit Hole, auf die mich vor einiger Zeit ein guter Freund hingewiesen hat. Wirklich empfehlenswert.

Der Ausschnitt ist wohl vor gut vier Monaten bei Google Video aufgetaucht, in schärferer Qualität gibt es ihn allerdings direkt auf der Homepage zum Film. Ich empfehle die Windows-Media-Version (abspielbar mit xine), denn der Ton der QuickTime-Version ist wesentlich schlechter. Zur Not gibt es ja immer noch die verwaschenere Google-Video-Version...


P.S.

Ich habe mir dir ganze Welt eh nur vorgestellt.


P.P.S.

Den Einträgen zu Wirklichkeit, wirklich und Wirkung im Adelungschen Wörterbuch folgend, ergibt sich folgende Kette:
  • Wirklichkeit meint die Eigenschaft, daß etwas wirklich ist, im Unterschied zur bloßen Möglichkeit.
  • Wirklich meint das in einer Wirkung Bestehende, im Gegensatz zu dem, das nur "der Fähigkeit nach vorhanden ist"; etwas, das als Wirkung "mit Kraft zu wirken versehen" ist. "»Wirklich« ist alles Wirkungsfähige", (Quelle).
  • Wirkung: "eine gewirkte, d. i. von einem andern Dinge hervor gebrachte Veränderung".

Damit ergibt sich Wirklichkeit nicht als Realität, die erst durch ein Wirken zur Wirklichkeit wird, sondern schlicht als das, was gewirkt wurde, das selbst Wirkung einer Veränderung ist und nicht selber aktiv sein oder passiv verursachend sein muß. Alternativ, der zweiten zitierten Bedeutung von wirklich nach, ist Wirklichkeit, was "mit der Kraft zu wirken versehen ist", was wirken kann, das Potential dazu hat; sie muß nicht tatsächlich wirken, um Wirklichkeit zu sein.

Schade eigentlich. Ein Realitätsbegriff, der tatsächliche Wirkung voraussetzt, wie ich Wirklichkeit während des Schreibens dieses Artikels verstanden habe, scheint durchaus seine Nütlichkeit zu haben, und wenn nur, um sich davon abzugrenzen.

Darüberhinaus kann man mit diesen Definitionen den anfänglich von meinem Dozenten zitierten Satz einfach als "Was auf mich wirkt, muß irgendwie erwirkt sein." oder "Was auf mich wirkt, muß irgendwie die Fähigkeit zu wirken haben." verstehen. Damit wäre die Bedeutung des Satzes allerdings eingeschränkt und nicht mehr so breit gefächert; die letzte Auslegung ist geradezu trivial.

Fauxpas

June 24, 2006, Miscellaneous

Der Bürgermeister des kleinen Dörfleins meiner Oma hat ihr zum 94. Geburtstag einen Brief geschrieben. Nette Geste. Ich finde seine Worte allerdings doch ein wenig makaber:

"[...] Mit diesen Wünschen verbinde ich die Hoffnung, dass es Ihnen vergönnt sein möge, noch recht viele frohe und schöne Stunden erleben zu dürfen."

Stunden?! Wünscht man nicht gewöhnlicherweise zu einem Geburtstag noch weitere Jahre? Muß ihm bei der Vorstellung von 94 Jahren untergelaufen sein... ;-)

"Mich verwirren will das Irren"

June 2, 2006, Literature
Last edited on October 11, 2006

Nette Verse wie:

Will in Bädern und in Schenken, Heilger Hafis, dein gedenken; Wenn den Schleier Liebchen lüftet, Schüttelnd Ambralocken düftet. Ja des Dichters Liebeflüstern Mache selbst die Huris lüstern.

Wolltet ihr ihm dies beneiden, Oder etwa gar verleiden, Wisset nur, daß Dichterworte Um des Paradieses Pforte Immer leise klopfend schweben, Sich erbittend ewges Leben.

und:

Doch Abraxas bring ich selten! Hier soll meist das Fratzenhafte, Das ein düstrer Wahnsinn schaffte, Für das Allerhöchste gelten. Sag ich euch absurde Dinge, Denkt, daß ich Abraxas bringe.

finden sich in Goethes West-Östlichen Divan von 1819.

(Zitate aus den Gedichten Hegire, Segenspfänder und Talismane (die Überschrift) des Buches des Sängers.)

Hermaphroditen, Ovid

June 2, 2006, Literature
Last edited on June 2, 2006

Wichtige Fragen in der Rubrik Vom Fachmann für Kenner der aktuellen Ausgabe der Titanic:

Neulich im Hermaphroditen-Forum

»Wenn ich beim Masturbieren nicht verhüte… Ist das dann schon Inzest?«
Tasja Küchemann

Dabei war ich doch ein bißchen erstaunt, daß viele meiner Freunde etwas mit dem Begriff "Hermaphrodit" anfangen können wollten. Das hätte ich nicht gedacht. Der Ursprung in der griechischen Mythologie ist allerdings unbekannter gewesen, also will ich kurz wiedergeben, wie Ovid in seinen Metamorphosen die Geschichte beschreibt (IV. Buch, etwa Verse 285 bis 388), denn jene ollen Mythen sind durchaus lustig und wirken oft, zumindest aus heutiger Sicht, etwas absurd:

Jan Gossaert, Verwandlung von Hermaphroditos und Salmicis (um 1470/80); click for more information (in der deutschen Wikipedia)

Hermaphroditus, benannt nach seinen Eltern, den Göttern Hermes und Aphrodite, verläßt mit fünfzehn Jahren die Heimat und gelangt an den Teich der Nymphe Salmacis. Diese ist ganz anders als ihre Schwestern, immerhin die Nymphen der Jagdgöttin Diana, gar nicht auf Sport und Jagen aus, viel lieber badet sie in ihrem Teich, kümmert sich um Haare und Kleidung und ruht lieber auf weichem Laub. Als sie gerade Blumen pflückt, erblickt sie schließlich den jungen Hermaphroditus und ist gleich völlig hin und weg nach dem, der seinen göttlichen Eltern gleicht. Sie eilt, nicht ohne sich noch vorher hübsch gemacht zu haben, zu ihm:

"[...] Gibt es eine [Braut], so sei ein Diebstahl, was ich begehre, Gibt es noch keine, sei ich's, laß uns dann ins Brautgemach eingehen!"

Der Knabe ist völlig überrumpelt und will fliehen, "wußt' er von Liebe doch nichts!" Salmacis erschrickt, beschwichtigt ihn, sie lasse ihn in Ruhe und würde ihm sogar ihren Teich gastfreundschaftlich überlassen, und gibt vor fortzugehen. Allerdings versteckt sie sich nur und beobachtet ihn.

Hermaphroditus, nun vermeintlich alleine, beschließt, baden zu gehen:

Ohne zu zögern, verführt durch die Wärme der schmeichelnden Wasser, Legt von dem schlanken Leib er ab die zarte Umhüllung. Da erst bestaunt ihn Salmacis recht, nach dem Reiz seiner nackten Schönheit entflammt in heißer Begier.

Als er schließlich in ihre Quelle springt, ruft sie laut: "Sieg! Er ist mein!", springt ihm nach und klammert sich an ihn, "raubt dem Wehrenden Küsse", "berührt ihm zuleid seine Brust", schmiegt sich an ihn wie eine Schlange, wie Efeu an einen Stamm, wie eine Krake unter Wasser. Er jedoch, völlig überrumpelt, sträubt und wehrt sich, "verweigert standhaft der Nympfe [..] die erhofften Freuden". Was diese natürlich erbost:

"Du magst dich wehren, du Böser! Wirst nicht entfliehn! Ihr Götter mögt so gebieten, daß ihn von Mir keine Stunde und mich von ihm keine Stunde kann trennen!" Und ihr Gebet, es fand seine Götter: Die Leiber der Beiden Wurden verschmolzen, in eine Gestalt die Zweie geschlossen. Wie, wenn man Zweige gepfropft unter eine Rinde und sieht zu- sammen sie wachsen und weiter gemeinsam sprießen fortan, so Sind, als in zäher Verstrickung die Leiber der Beiden vereinigt, Zwei sie nicht mehr, eine Zwiegestalt doch, nicht Mädchen nicht Knabe Weiter zu nennen, erscheinen so keines von beiden und beides.

Das ist der Mythos zum Begriff Hermaphrodit, der auch heute durchaus noch in der Zoologie oder auch der Medizin so gebräuchlich ist. Nach der Verwandlung, der Metamorphose, des Hermaphroditus kommt noch als eigentliches Ende die Metamorphose des Teiches: Hermaproditus fleht seine Eltern, "schon mit männlicher Stimme nicht mehr", an, sie mögen das Gewässer mit einen "mannheitsverderbenden Zauber" belegen, auf daß wenigstens auch zukünftig jeder Mann zum "Halbmann, verweibt, [werde], sobald ihn berüht seine Wellen!"

(In meiner Kurzfassung habe ich aus der Übersetzung der Metamorphosen von Erich Rösch zitiert, dtv, 1997, ISBN: 3-423-12456-3.)

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