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Literature Archives for January 2006

Hesses Steppenwolf über das Bürgertum

January 17, 2006, Literature

Hermann Hesse, Der Steppenwolf (Suhrkamp, 1927); Abbildung: August Macke, Spiegelbild im Schaufenster (Ausschnitt), 1913

Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, ein Mensch, der eine Ahnung hat von den Himmeln und Abgründen des Menschentums, sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sense, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen.

Nie wird [der Bürger] sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen — im Gegenteil, sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt werder der Heiligkeit noch deren Gegenteil, Unbedingtheit ist ihm unerträglich, er will zwar Gott dienen, aber auch dem Rausche, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bißchen gut und bequem auf Erden haben. Kurz, er versucht es, in der Mitte zwischen den Extremen sich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ohne heftige Stürme und Gewitter, und dies gelingt ihm auch, jedoch auf Kosten jener Lebens- und Gefühlsintensität, die ein aufs Unbedingte und Extreme gerichtetes Leben verleit. Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs. Der Bürger nun schätzt nichts höher als das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität also erreicht er Erhaltung und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.

Beide Zitate aus dem Tractat vom Steppenwolf — (Nur für Verrückte) in Herrmann Hesses Der Steppenwolf; Erstveröffentlichung 1927. (Hervorhebungen von mir.)

(Siehe auch "Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs." und Eschbach, Carr, Hesse.)

"Wo weiland das Plakat ‚Prestige’ pappte"

January 16, 2006, Literature
Last edited on February 28, 2007

Der Spiegel, Ausgabe 52/2005

"Wo genau verbergen sich jene Schalter, die den Ahnen den Weg wiesen zu aufrechtem Gang, Sprache, Bewusstsein?"

Gelesen auf Seite 138 des Spiegels mit dem Titel Gott gegen Darwin — Glaubenkrieg um die Evolution , Ausgabe 52/2005, im Artikel Darwins Werk, Gottes Beitrag.

Was für ein toller Satz! Vor die Präposition vorgezogenes Verb ("den Weg wiesen zu aufrechtem Gang"), andere Konstruktion, als man normalerweise erwarten würde, (nicht "Weg zum aufrechten Gang", sondern eben "Weg zu aufrechtem Gang") und dann auch noch diese schöne Klimax ohne "und" am Ende, die eben genau durch die aufgebrochene Klammer, die andernfalls das Verb gebildet hätte, auch am Ende stehen kann, und dadurch zusätzliche Hervorhebung erhält. Man liest eben nicht:

"Wo genau verbergen sich jene Schalter, die den Ahnen den Weg zum aufrechten Gang, zu Sprache und Bewußtsein wiesen?"

So macht lesen Spaß!

Schneider

Übrigens macht mir das Spiegel-Lesen insgesamt viel mehr Spaß, seit ich ein Buch von Wolf Schneider, u.a. ehemaliger Leiter der Hamburger Journalistenschule, gelesen habe. Über das ganze Buch verteilt zitiert er ständig den Spiegel als schlechtes Vorbild. Um ein Beispiel dessen zu geben sei der folgende Absatz von Seite 81 wiedergegeben, in dem das "er" sich übrigens auf den Stabreim bezieht:

"Freilich ist er ein kleines Übel, verglichen mit den miesen Maschen, Moden, Meisen, Mätzchen, Marotten und Manien, mit denen der Spiegel die deutsche Journalistensprache überzogen hat."

(Hmmm, sollte man hier bemerken, daß er selbst nicht für den Spiegel geschrieben hat, sondern unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Stern und Die Welt? (Zumindest laut der deutschen Wikipedia.))

Wenn man aber nicht über diese vielen, ständig wiederholten Seltsamheiten einfach hinwegliest, sondern sie bewußt wahrnimmt, kann man nur immer wieder schmunzeln, was die Autoren gar noch in die kleinste Überschrift hineinpacken.


Das Buch hat mir jedenfalls äußerst gut gefallen, auch wenn ich den Titel für ziemlich ungeschickt gewählt halte. Mich schreckt er jedenfalls ab, und hätte ich das Buch nicht netterweise einfach so zwischendurch mal geschenkt bekommen, hätte ich es wohl keines weiteren Blickes gewürdigt; er lautet Deutsch für Profis — Wege zu gutem Stil.


Es ist ein Sachbuch, ein Handbuch für Journalisten, doch durch zahlreiche, oft unfreiwillig komische Beispiele aus Presse und Rundfunk (mit entsprechenden Kommentaren Schneiders) ist es sehr unterhaltend. Nehmen wir folgende Auseinandersetzung mit "ziemlich schweren Verwüstungen" auf Seite 48:

Ziemlich schwere Verwüstungen


"Der Hurrikan hat in Miami schwere Verwüstungen angerichtet." Diese typische Nachricht enthält nicht weniger als vier sprachliche und logische Torheiten:
  1. "In Wüste verwandeln" ist ein Superlativ, den keine Phantasie übersteigen kann. "Schwere" Verwüstungen sind so sinnvoll wie "starke" Orkane oder "ziemliche" Katastrophen.
  2. Verwüstungen anrichten ist ein Streckverbum, wie es im nächsten Kapitel angeprangert wird: es sagt nichts anderes als verwüsten.
  3. Verwüstung lässt keinen Plural zu, so wenig wie Versandung, Vermehrung oder Verehrung. Oder sollte der Hurrikan in Miami fünf bis sechs Verwüstungen angerichtet haben?
  4. Der Hurrikan hat also Miami verwüstet. Wie, das hat er gar nicht — nur Teile von Miami? So ist das: Wenn ich ein Verbum substantiviere, strecke, in die Mehrzahl versetze und mit einem Beiwort noch steigere — dann sagt es weniger aus als zuvor. Miami wurde gar nicht "verwüstet", sondern "Ein Stadtteil von Miami wurde verwüstet" oder "In Miami entstanden schwere Schäden". Das Spreizwort "schwere Verwüstungen anrichten" ist ein in Großauflage gedrucktes Etikett für einen gehobenen Versicherungsfall, das in den Köpfen der Journalisten zweieinhalb leichte Verwüstungen angerichtet hat.
(Die neue Rechtschreibung habe ich so aus dem Buch übernommen.)


Oh, wenn ich schon dabei bin: Einen weiteren Satz — reich an Saft und Kraft — muß ich zitieren. Im Kapitel Weg mit den Adjektiven führt er Gründe auf, daß die Adjektive, "die am häufigsten überschätzte und am meisten missbrauchte Wortgattung", "anders als die Füllwörter aber, die sich aus jedem Text leicht tilgen lassen, [...] Schaden an[richten]". Mit einem bemerkenswert ausdrucksstarken Satz beendet er den Sinnabschnitt auf Seite 41:

"Auch wo sie all dies meiden, neigen sie immer noch dazu, sich auf schlanke Verben und pralle Substantive wie Schwabbelfett zu legen."


Das Zitat, das als Überschrift dieses Eintrags dient, ist übrigens auch dem Buch entnommen, das hier wiederum die Welt am Sonntag, Ausgabe vom 7.9.1980, zitiert; es ist das gipfelnde Abschreckungsbeispiel zum bereits erwähnten Abschnitt über Reime, diesmal im Fließtext und auf Teufel komm raus, unter Verwendung altmodischer Wörter ("weiland").

A.L. Kennedy, Paradise

January 10, 2006, Literature
Last edited on January 10, 2006

A.L. Kennedy, Paradise

So continuous minor blackouts are fair enough. But not enough. Not once you realise that one minute unremittingly following another, and then taking sixty seconds to drag by in the customary order, is a totally unsupportable waste of time. Why not get the highlights, the hot spots, and skip the rest? Why not hugely enjoy a fine afternoon with quality people, while simultaneously recalling a splendid evening you've been keeping in reserve and now unveil to youself in a bouncing rush that, in its turn, freshens your taste for the matters you have in hand?

"Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs."

January 3, 2006, Literature

Aber mitten in der erreichten Freiheit nahm Harry plötzlich war, daß seine Freiheit ein Tod war, daß er allein stand, daß die Welt ihn auf eine unheimliche Weise in Ruhe ließ, daß die Menschen ihn nichts mehr angingen, ja er selbst sich nicht, daß er in einer immer dünner und dünner werdenden Luft von Beziehungslosigkeit und Vereinsamung langsam erstickte. Denn nun stand es so, daß Alleinsein und Unabhängigkeit nicht mehr sein Wunsch und Ziel war, sondern sein Los, seine Verurteilung, daß der Zauberwunsch getan und nicht mehr zurückzunehmen war, daß es nichts mehr half, wenn er voll Sehnsucht und guten Willens die Arme ausstreckte und zu Bindung und Gemeinsamkeit bereit war: man ließ ihn jetzt allein. Dabei war er nicht etwa verhaßt und den Menschen zuwider. Im Gegenteil, er hatte sehr viele Freunde. Viele hatten ihn gern. Aber es war immer nur Sympathie und Freundlichkeit, was er fand, man lud ihn ein, man beschenkte ihn, schrieb ihm nette Briefe, aber nahe an ihn heran kam niemand, Bindung entstand nirgends, sein Leben zu teilen war niemand gewillt und fähig. Es umgab ihn jetzt die Luft der Einsamen, eine stille Atmosphäre, ein Weggleiten der Umwelt, eine Unfähigkeit zu Beziehungen, gegen welche kein Wille und keine Sehnsucht etwas vermochte. Dies war eins der wichtigsten Kennzeichen seines Lebens.

aus Herrmann Hesse, Der Steppenwolf

(Siehe auch Eschbach, Carr, Hesse.)

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